Patienteninfo KJP-Info Therapeutensuche

Fallbericht Psychodynamische Traumatherapie

Was passiert eigentlich in einer Kinderpsychotherapie?

Traumatherapie zum Anfassen

Gallasch-Stebler, Andrea (2012): Nächste Station Erde. Langzeittherapie eines schwer traumatisierten Kindes in Praxis und Theorie. Lengerich: Pabst Science Publishers.
ISBN 978-3-89967-762-1
Broschiert, 250 Seiten, Euro 25,-
www.gallaschandrea.ch

Es ist ein höchst seltener, in der Offenheit enorm wertvoller, sehr gelungener Fallbericht und gibt tiefen Einblick in den psychotherapeutischen Prozess einer Kindertherapie im Allgemeinen und einer Psychotraumatherapie im Besonderen. Schon 2012 erschienen findet er erst jetzt stärkere Verbreitung, vielleicht aufgrund des Wissenschaftsverlags, der an hoch wissenschaftliche Lektüre denken lässt. Das Gegenteil ist der Fall: Endlich mal ein verständlich und anschaulich geschriebener Therapiebericht (trotzdem wissenschaftlich korrekt), der berührt, informiert und den Leser auf eine Reise in die Seele eines seelisch schwer verwundeten Kindes mitnimmt.
„Die spielen ja nur.“ – So das manchmal etwas abschätzige Urteil von Eltern, Pädagogen oder Ärzten über KinderpsychotherapeutInnen. Dass hinter diesem tatsächlich stattfindenden Spiel, das eben die wichtigste Ausdrucksmöglichkeit des Kindes ist, in Wirklichkeit sehr harte und aufreibende Arbeit steckt, macht diese Dokumentation einer langjährigen Therapie eines zehnjährigen Jungen auf gut einfühlbare und leicht lesbare Weise deutlich.

Im ersten Teil präsentiert die Schweizer Autorin in 51 kurzen Kapiteln den Therapieverlauf über mehrere Jahre und lässt den Leser teilhaben am Auf und Ab der emotionalen Verwicklungen, an scheiternden und gelingenden Versuchen der Therapeutin, in das von Schrecken und Einsamkeit geprägte Erleben des Kindes sehr achtsam und immer eng an den Bedürfnissen des Patienten orientiert, positive Elemente im Erleben zu implantieren sowie Ressourcen aufzubauen. Sie lässt uns dabei einen Prozess der Nachreifung und Traumabearbeitung miterleben, der sowohl dem Patienten als auch der Therapeutin viel Anstrengung abverlangt, aber auch aufzeigt, mit welcher Entschlossenheit Kinder ihre Selbstheilungskräfte nutzen können und wollen, wenn sie dafür den richtigen Rahmen einer haltgebenden, verstehenden, verlässlichen und bedingungslos wertschätzenden Beziehung bekommen, wie dies nur bei einer hochqualifizierten PsychotherapautIn möglich ist, die sich in jahrelanger Aus- und Weiterbildung inklusive umfangreicher Selbsterfahrung darauf vorbereitet hat, auch sehr destruktives Verhalten nicht persönlich zu nehmen, sondern es methodisch versiert in einen guten Sinnzusammenhang zu bringen und langfristig in konstruktive Bahnen zu lenken.
Ganz nebenbei erfährt die LeserIn das Wichtigste an theoretischem Hintergrund, mit besonderer Sorgfalt gerade für den therapeutischen Laien verständlich formuliert, so dass auch interessierte Eltern, LehrerInnen, ErzieherInnen, Angehörige medizinischer und pädagogischer Berufe wie auch andere Interessierte einen guten Zugang zu diesem Wissensgebiet erhalten: In jedem Kapitel folgt auf z.T. aufwühlende Schilderungen des Therapiegeschehens eine durch kursive Schrift abgesetzte Reflexion unter Einbezug der fachlichen Hintergründe zum Verständnis der therapeutischen Interventionen.
Im zweiten Teil, der als Methodik-Anhang konzipiert ist, informiert Frau Gallasch-Stebler sehr kenntnisreich zuerst über Kindertherapie im Allgemeinen: Von der Ausstattung des Therapiezimmers und was dort gemacht wird, über die Art von Symptomen, die Therapieanlässe sein können, Anmelde-Abläufe, Rahmenbedingungen und Zusammenarbeit mit den Eltern bis hin zu Gefahren und Risiken sowie Dauer und Finanzierung fasst sie das Wesentliche auf 13 Seiten zusammen. Dieses Kapitel könnte auch für sich stehen, z.B. in einem Heft, das bei KinderärztInnen, GynäkologInnen und in Beratungsstellen ausliegt oder SchulsozialpädagogInnen, sogar auch Berufsberater an die Hand bekommen.
Sodann folgt an zweiter Stelle die Darstellung zweier besonderer Methoden, die im Therapiebericht vorkommen, hier besonders des EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, von der WHO aufgrund ihrer besonderen Wirksamkeit als eine von zwei Methoden für Psycho-Traumatherapie empfohlen), das auf 17 Seiten sowohl kurz in Entstehung und Ablauf, als auch in Sitzungsprotokollen aus der beschriebenen Therapie plastisch erläutert wird. Auch dies könnte allein für sich eine Handreichung für Eltern und Fachpersonen sein.
Als zweite Methode wird die Squiggle-Technik des renommierten englischen Kinderanalytikers Winnicott auf 32 Seiten mit vielen Zeichen-Beispielen beschrieben.
Eine kurze Fallgeschichte zur Überwindung eines Therapieabbruchs mit Hilfe von Pokémon-Figuren als Beispiel für den Einbezug von kommerziellem Spielzeug, das im heutigen Kinderleben oft eine große Bedeutung hat, rundet den Methodenteil ab.
Als dritter Teil des Anhangs folgt eine Erläuterung, warum spezielle Psycho-Traumatherapie wichtig ist. Hier klärt die sehr erfahrene Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und -analytikerin über die Entstehung eines Psychotraumas sowie wichtige Aspekte der Traumabehandlung und die besondere Vorgehensweise auf.
Dieses einzigartige Buch vermittelt ein tiefes Verständnis und praxisrelevantes Wissen über das Vorgehen in einer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie psychodynamischer Herkunft. Als besonders wertvoll erweist sich aber auch der Einblick in die Innenwelt eines vordergründig aggressiven und in der Schule nicht tragbaren Kindes, das durch einen schwerbehinderten älteren Bruder sowie depressiver, daher zu wenig Schutz gewährender Mutter und beruflich meist abwesendem Vater in frühester Kindheit misshandelt und vernachlässigt wurde. Diese Konstellation dürfte exemplarisch sein für viele Fälle von häuslicher Gewalt und Vernachlässigung in der Kindheit, deren Häufigkeit und gravierende Auswirkungen im Erwachsenenalter uns ja die umfangreiche ACE-Studie (Adverse Childhood Experiences) nahe gebracht hat (Felitti 1998). Insofern eröffnet dieses Buch auch den Zugang zur Innenwelt nicht nur kindlicher, sondern auch erwachsener Patienten mit solcher Vorgeschichte. Es ist allen besonders ans Herz zu legen, die mit traumatisierten Kindern zu tun haben, und Kinderärzte wie Jugendämter können es auch informierten Pflegeeltern von traumatisierten Kindern empfehlen. Auch für Therapeuten-KollegInnen ist es wertvoll, weil es alle aktuellen Diskussionen aus diesem Bereich kurz und schlüssig beleuchtet und in seiner Offenheit selbst nach langer Berufserfahrung noch gute Anregungen enthält. Für angehende TherapeutInnen und Berufsanfänger sollte es Pflichtlektüre sein.
Ich selbst bin auf einem internationalen Traumatherapie-Kongress darauf gestoßen. Auf dem Rückflug las ich das Buch. Ein 15 jähriges Mädchen saß neben mir und fragte, ob sie den Titel aufschreiben dürfte. Sie wolle so etwas mal als Beruf lernen. Ob sie meine Begeisterung beim Lesen gespürt hat?

Dipl.-Psych. Reinhild Temming, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Dortmund